Gegenhypothesen

Obwohl sie in Fachkreisen kaum noch diskutiert werden, soll an dieser Stelle etwas näher auf die wenigen Gegenhypothesen zur Interpretation von Kalkriese eingegangen werden.

Eine Gruppe von Gegenhypothesen kann man getrost ad acta legen, nämlich die Thesen, die den Ort der Schlacht weit ausserhalb des Weserberglandes verorten wollen. So etwa westlich der Ems, etwa direkt in Rhein- oder Lippenähe, oder östlich der Weser etwa an Harz oder Elbe. Diese Thesen lassen sich nicht sinnvoll stützen, selbst nicht durch sehr wohlwollende und kreative Quelleninterpretation, sei es der literarischen oder der archäologischen Quellen.

Einzig verbleiben heute, mit sehr viel Wohlwollen, die Angrivarierwall- oder Caecinahypothesen, wobei diese i.d.R. keine eigenen konstruktiven Lokalisationsversuche der Varusschlacht vorlegen, sondern nur destruktiv Kalkriese als Varusschlachtort disqualifizieren möchten.

Im obigen Absatz wurde schon erwähnt, was diese beiden Thesen eigentlich ausschliesst, nämlich die aus den Annalen des Tacitus ersichtlich Lokalisationen dieser Schlachten, die keinesfalls zu Kalkriese passen, nämlich Caecina westlich der Ems, Angrivarierwall östlich der Weser. Trotzdem kann man hier ggf. Ungenauigkeiten oder Fehler in den Annalen des Tacitus unterstellen, denn Tacitus schrieb diese gut 100 Jahre nach den Ereignissen. Dabei griff er auf uns heute nicht mehr zugängliche, aber wohl recht zuverlässigen Quellen zu.

Das nächste wohlwollende Argument ist die Behauptung, dass ein Münzhorizont, der zum Jahre 9 passt natürlich auch zum Jahre 15 oder 16 passt. Das ist prinzipiell auch korrekt. Andererseits weiss man aus vergleichenden Betrachtungen, dass man dann etwa 1% Münzen des späteren Germanicushorizontes in Kalkriese erwarten muss, dass entspricht ungefähr 20 solcher Streumünzen (und nicht etwa Verwahrfunde). Solche wurden aber definitiv nicht gefunden.

Aber selbst dass Auffinden einiger weniger oder gar eines grösseren  Germanicusverwahrfundes würde da nichts bringen, denn Germanicus war nach den Annalen ganz sicher unter Kriegsbedingungen an diesem Ort gewesen und muss daher dort auch Fundgut, wenn auch weniger, hinterlassen haben (so z.B. die bereits gefundenen Knochengruben). Nur eine deutliche Durchseuchung des Varushorizontes würde Anlass zum Zweifeln geben. Davon kann aber nicht im Entferntesten die Rede sein.

Etwas subtiler der Versuch dagegen war es, den Münzhorizont einer statistischen Analyse bezüglich der so genannten Legionsdenare zu unterziehen. Dabei sieht man, dass die ehemals von den Varuslegionen ausgegebenen Legionsdenare in Kalkriese seltener sind als zum Beispiel im Legionslager Haltern und, man kann es ahnen, die Legionsdenare der Caecinalegionen aber häufiger vorkommen. Nun, was auf den ersten Blick einleuchtend klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als reine Luftnummer: Legionsdenare sind nämlich Gelder die in den Bürgerkriegsjahren 32/31 vor Chr. ausgeprägt wurden. Sie waren zur Zeit der Varusschlacht also schon satte 40 Jahre im Umlauf und hatten mit Ort oder Legion längst keinen Zusammenhang mehr. Das einzige was eine solche Statistik zeigt ist, dass die Legionen 17,18 und 19 vier Jahrzehnte vor der Schlacht nur wenige solche Stücke prägten, aber dass wusste man auch schon vorher.

Verteilung der 40 Jahre alten Legionsdenare (hell Kalkriese, dunkel Haltern) geben nur Auskunft über Münzmengen und Münzumlauf, nicht aber über den Aufenthalt von speziellen Legionen am Fundort. Die Grafik wurde nach W. Lippek in absoluten(!) statt relativen Zahlen gefasst. Auffallend daher auch die enorme Fundmenge in Kalkriese: Selbst ein dauerhaft von Legionen belegter Platz wie Haltern verblasst dagegen. Im Übrigen kommen die in Kalkriese zusätzlich vorhandenen Legionsdenare vorwiegend aus dem südöstlichen Reichsgebieten, dort wo Varus sein Vermögen erwarb.

Weiterhin ist klar, dass die Caecina- und auch die Angrivarierwallschlacht unter Germanicus deutlich weniger Verluste hatten als der Totalverlust des Varus; zudem wurde mit Sicherheit keine grösseren Goldmengen mitgeführt.

Der Umkehrschluss ist daher auch entscheidend: Würden diese Gegenhypothesen stimmen, so müsste der dann fehlende und noch mal deutlich grössere Münzhorizont des Varus anderswo längst aufgefallen sein. Schliesslich waren ja im Kalkrieser Engpass im 19 Jhd. bereits mit dem blossen Auge gut 200 verstreute varuszeitliche Münzen gefunden worden, Grössenordnungen mehr als an jedem andern Fundort (mit Ausnahme der singulären Schatz- und Verwahrfunde, die spielen jedoch eine ganz andere Rolle).

Als letztes Argument werden schliesslich einige Epigraphiken auf Fundstücken in Kalkriese in "die Schlacht um den Schlachtort" geworfen: Dies sind mehr oder weniger gute Kritzeleien auf militärischen Ausrüstungsgegenständen. Die Legionäre pflegten nämlich ihre wertvolle Ausrüstung zu kennzeichnen, damit sie nach dem Chaos einer Schlacht auch wieder ihrem rechtmässigen Besitzer zugeordnet werden konnten. Die sachgerechte Interpretation solcher Graffiti ist eine diffizile Kunst, denn sie bestehen nur aus kleinen Abkürzung, die i.d.R. extrem kurz und obendrein auch nicht genormt waren. Der Inhalt solcher Minitexte war jedem freigestellt, es reichte ja völlig aus seine eigene "Seriennummer" benennen zu können, um sein Besitzrecht geltend zu machen. Wichtig war dabei natürlich auch, das die Zuordnung kleinskalig war, d.h. wenn möglich Name und Untereinheit, nicht etwa nur die Legion, die aus bis zu 6000 Legionären bestand.

Nun sind auf zwei von drei dieser Fundstücke eine erste Kohorte einer sonst unbekannten Legion erwähnt. Manch Einer möchte hier statt dessen gerne etwas kreativ die Legion I hineininterpretieren, denn es ist bekannt, dass diese neben drei weiteren Legionen in 15 unter dem Kommando des Generals Caecina marschierte. Ein drittes Fundstück nun führt seit kurzem zum Sturm im Wasserglas. Es ist eine Schwertscheide mit einem längeren und heterogenen Graffiti. Nur ein kleinerer, mittiger, Teil dieser Aufschrift, nämlich die drei Buchstaben LPA, führten zu einiger Diskussion. Nach langem Studium hat man sich nämlich entschlossen, dass diese drei Buchstaben vermutlich mit legio prima augusta zu übersetzen seien.

Was bei flüchtigem Hinsehen wie der "rauchende Colt" ausschaut, erweist sich jedoch im konkreten als relativ belanglos. Denn es gab mehrere Legionen I, wobei die legio prima augusta schon im Jahre 19 vor Chr. in Spanien aufgelöst wurde. Zur Zeit der Varus- und Germanicuskriege hieß sie denn auch legio prima germanica, die Abkürzung also bestenfalls LPG, meist aber LEG I GER geschrieben. Die epigraphische Folgerung ist, und das bezeugt vor allem auch ein auf der Scheide angebrachte Verzierung mit einer in Spanien geprägten Münze aus dem Jahre 19 v.Chr., dass diese Scheide zum Zeitpunkt der Verbringung in Kalkreise rund drei Jahrzehnte alt war. Sie war damit ein uraltes Erbstück und längst nicht mehr an eine Legion gebunden.

Die komplexe Kratzung auf dem Mundblech und ihre vorläufige Deutung. Rot ist der Text, Grün die sogenannte Haste, das Zeichen eines Centurio. Blau das versteckt und aus der Reihe stehende Paz-L und Violett die in Reihe stehende, aber von Paz ignorierte, II. Die zunächst gehandelte Lesung ist daher: "T.Vibius, aus der Centurie des Tadius, Erste Legion des Augustus, 60 Denare".

Vielmehr konnte der neue Besitzer, vielleicht der Sohn des Erwerbers, das alte Graffiti auf dem guten Stück ja nicht radieren, aber er trug am Ende noch ein weiteres Graffiti ein: XIIX, die achtzehnte Legion, wie am Ende der längeren Aufschrift dort recht gut zu lesen ist. Allerdings wurde das Fundstück durch die spanische Epigraphikerin Paz begutachtet, und die interpretierte eine undeutliche Kratzung oberhalb des XIIX als weiteres L und somit unter Vernachlässigung des II als X L X, was sie mit X(denarii) LX (60) als ein etwas ungelenkes Preisschild von 60 Denaren interpretierten möchte. Der Status des Varus war übrigens legatus pro praetore Augusti, als der Statthalter des Augustus in Germanien. Somit könnte der neue Besitzer mit der Verlängerung zu LPAXIIX damit auch den besonderen Status der 18.ten Legion ausgedrückt haben. Eine mögliche Lesung könnte daher durchaus sein: "(Sohn des) T.Vibius, aus der Centurie des Tadius, 18. Legion des Statthalters des Augustus".

Grundsätzlich ist an dieser Stelle jedoch zu betonen, dass die Diskussion einzelner Fundstücke i.a. nur sehr begrenzt weiterhilft. Einzelstücke aller Art können unter den seltsamsten Umständen an den einen oder anderen Ort geraten sein, die heute unmöglich zu klären sind. Entscheidend ist daher immer die Gesamtschau der Funde, Befunde und der historisch-archäologischen Argumente.