Schlachtort Kalkriese

Was wäre, wenn die wenigen literarischen Versatzstücke zur Varusschlacht, die nicht dem Feuer , Schimmel oder christlichem Eifer zum Opfer fielen, nicht mehr existierten? Dann wüssten wir von Kalkriese heute nur, dass es sich um eine veritable Schlacht römischer Truppen augustescher Zeit gehandelt hat, die sicher nach dem Jahr 2 v.Chr. stattgefunden hätte. Und wir würden über die Vielzahl der VAR Gegenstempel auf den Münzen rätseln, die offensichtlich einem unbekannten Feldherrn mit Namen VAR-irgendwas zu zuordnen wären.

Gott sie Dank wissen wir aufgrund der erhalten gebliebenen Literatur einiges mehr, so dass wir den Fundplatz in eine Gesamtschau einbinden können. Wegen der zahlreichen VAR-Stempel wissen wir das die Schlacht zwischen 7 n.Chr. und 16 n.Chr., dem Ende des römischen Engagements im Inneren Germanien, stattgefunden haben muss. Und in dieser ungewöhnlich eng begrenzten Zeitspanne gibt es in der Gesamtschau kaum einen Interpretationspielraum bei der Frage, um welche Schlacht es sich dabei handelte.

Der spätere Nobelpreisträger Theodor Mommsen hatte im späten 19. Jhd. als erster die zündende Idee um unter der enormen Vielzahl der, notwendigerweise fast nur falschen, Lokalisierungshypothesen eine Entscheidung herbei zu führen: Die Varusschlacht war der einzige Totalverlust der Römer im Weserbergland, ergo sollte sich der Ort durch eine statistische Häufung von Zufallsfunden bis-augustescher Münzen erkennen lassen. Also ließ er alle im Großraum Weserbergland bis dato gemachten Zufallsfunde katalogisieren. Dabei stellte sich ein ganz auffälliger und sonst nirgends vergleichbarer Hotspot heraus: Der Engpass von Kalkriese! Das hat Mommsen damals genauso verwundert wie seine Zeitgenossen.

Theodor Mommsen schrieb zur Lokalisation der   Varusschlacht im Achten Buch, Fußnote 20, seiner Römischen Geschichte (1884/85): "Varus mag von Minden etwa in der Richtung auf Osnabrück marschiert sein, dann nach dem Angriff von dort aus nach Paderborn zu gelangen versucht und auf diesem Marsch in einem jener beiden Höhenzüge (Anm.: gemeint sind hier Osning und Wiehengebirge) sein Ende gefunden haben. Seit Jahrhunderten ist in der Gegend von Venne an der Huntequelle eine auffallend große Anzahl von römischen Gold-, Silber- und Kupfermünzen gefunden worden, wie sie in augustischer Zeit umliefen, während spätere Münzen daselbst so gut wie gar nicht vorkommen ..... Einem Münzschatz können diese Funde nicht angehören, wegen des zerstreuten Vorkommens und der Verschiedenheit der Metalle; einer Handelsstätte auch nicht, wegen der zeitlichen Geschlossenheit; sie sehen ganz aus wie der Nachlaß einer großen aufgeriebenen Armee, und die vorliegenden Berichte über die Varusschlacht lassen sich mit dieser Lokalität vereinigen....."

Zu Mommsens Zeiten konnte man sich nach anfänglicher Zustimmung jedoch nicht auf diesen Schlachtort einigen, denn es gab zwei Probleme: Erstens hatte man noch keine Militaria gefunden und zweitens bestanden die rund 200 Zufallsfunde an Münzen praktisch nur aus Gold- und Silbermünzen. Es fehlte das typische Soldatengeld, die Kupferasse. Gut hundert Jahre später, im Jahre 1987, nahm der Militärhistoriker Major Tony Clunn die alte Spur wieder auf. Mit modernen Metallsuchgeräten konnte er nun auch erste Militaria dingfest machen, sodass der Osnabrücker Archäologieprofessor Schlüter sich mit dem neuen alten Schlachtort anfreunden konnte. Die Ausgrabungen brachten in der Folgezeit neben Militaria und germanischen Befestigungsanlagen natürlich auch weitere Münzfunde, jetzt auch viel Kupfer. Geblieben ist aber immer noch die ungewöhnlich hochwertige Statistik dieser Münzen, im Vergleich zu normalen Lagerorten überwiegt immer noch deutlich der Gold- und Silberwert des Bestandes.

Die Münzstatistik von Kalkriese war und ist im Grossraum Weserbergland absolut einzigartig mit ihren inzwischen tausenden von Münzen. Ausweislich der Schlussmünze (für Kalkriese ist dies der im Kalkrieser Hort "Lutterkrug" gefundene Gaius/Lucius-Denar des Augustus, der ab 2 v.Chr. bis maximal 4 n.Chr. geprägt wurde) in Verbindung mit den reichlich vorkommenden VAR-Gegenstempel (diese schließen vor-varianische Schlachten, die eventuell etwa im immensum bellum 1-4 n.Chr. stattfanden, aus), die nur in den Jahren 7 - 9 n.Chr. aufgebracht werden konnten, ist sie am ehesten in das Jahr 9 zu datieren und lässt für realistische Gegenhypothesen wenig Spielraum. Dazu kommen natürlich weitere Funde, insbesondere Militaria, und, ganz wichtig auch: Knochengruben auf die ich zum Schluss noch eingehe.

Prinzipiell kämen als Gegenhypothesen dazu nur die wenigen Scharmützel und Schlachten bis zum Ende des römischen Engagement in Germanien im Jahre 16 in Frage, die durch Tiberius oder Germanicus gefochten wurden, die aber alle nicht so verlustreich waren. Schon in 10 unternahm Tiberius im Zuge der Neuordnung der Rheingrenze begrenzte Einfälle ins rheinnahe Germanien, die aber sicher nicht bis nach Kalkriese vorstießen. Nach Sueton (Sueton, Tiberius, 18 (1)) ist bekannt, das Tiberius dabei Order gab, jedwede mitgeführte Trosse auf das militärisch unbedingt notwendige zu beschränken. Eine Vernunftsentscheidung die mit Sicherheit auch Germanicus beherzigte, schließlich befand man sich nach 9 im unbedingten Kriegszustand, von einer beinahe befriedeten Provinz wie zur Zeit des Varus konnte beim besten Willen nicht mehr die Rede sein.

Mit dem Tode des Augustus in 14 meuterte (tac.ann.1,31,1-3;1,49,3-1,51) die Rheinarmee und es war an Germanicus, diese zu beendigen und die Truppen mit neuen Einfällen ins innere Germanien wieder zu motivieren. Tacitus überliefert uns in seinen Annalen eine recht umfängliche und genaue Beschreibung der Germanicus Feldzüge in 14-16 n.Chr. Der 14er Feldzug betraf lediglich rheinnahe Gebiete, wobei man die germanischen Stämme, die sich schon an einen Scheinfrieden gewöhnt hatten, überraschte und massakrierte.

Mit einer systematischen Wiedereroberungsstrategie machte Germanicus in den Jahren 15 und 16 ernst, wobei er im Jahre 15 sogar den Ort der Varusschlacht besuchte und für eine notdürftige Bestattung der dort noch zu findenden Überreste der Varusarmee sorgte. Dieser Akt fand bereits unter dem Druck partisanenartig (tac.ann.1,62-1,63) angreifenden Verbände des Arminius statt, denen Germanicus zur Vermeidung größer Bedrohung nachsetzte. In den Kriegsjahren 15 und 16 kam es nur zu drei größeren Schlachten, von denen keine auch nur annähernd so verlustreich geschildert wurde und war wie die Varusschlacht. Dies sind nur die Caecinaschlacht in 15 sowie die Schlacht von Idistaviso in 16 und drittens die Schlacht am Angrivarierwall direkt bei und nach letzterer.

Aus den Beschreibungen des Tacitus geht hervor das die Caecinaschlacht an den pontes longi westlich der Ems stattfand und die Idistavisoschlacht  und auch die Angrivarierschlacht östlich der Weser. Somit kommen diese Schlachten nach den literarischen Quellen geographisch gesehen alle nicht in Frage, denn Kalkriese liegt östlich der Ems und westlich der Weser. Allerdings müssen Zweifel an der Genauigkeit der Tacituslokalisierungen erlaubt sein, da dieser sicherlich nie selbst in Germanien war sondern nur auf einige, uns leider nicht erhaltenen, ältere Geschichtswerke zurückgriff.

Ein weiterer eigentlich ganz zentraler Punkt wird in der Diskussion um den Münzhorizont von Kalkriese gerne vernachlässigt: Die Funde von Goldmünzen sind geradezu einzigartig. Der Wert der Gold- und Silbermünzen übersteigt deutlich den Wert der Kupfermünzen. Das ist das genaue Gegenteil zu einem Münzhorizont wie etwa im Militärlager von Haltern an der Lippe. Nur ein grösserer Münzhorizont dieser statistischen Zusammensetzung und Zeitstellung ist bekannt, nämlich der der zivilen Siedlung Pompeji. Auch Pompeji wurde durch ein unerwartetes Ereignis in Stundenfrist eliminiert und hat damit seine natürliche Zusammensetzung bewahrt. Bei dem Münzhorizont von Kalkriese haben wir also ganz deutlich einen zivilen und nicht einen militärischen vorliegen.

Die exorbitante Menge an Goldfunden in Kalkriese und Umgebung ist somit ganz sicher nicht mit den rein militärischen Scharmützeln und Schlachten nach 9 durch Tiberius und Germanicus zu erklären. Hier wurden nichtmilitärische Schätze bewegt, dass ist ganz offensichtlich. Diese Menge verstreuten Goldes ist nicht mit einer Germanicusschlacht zu erklären, die unter ganz anderen, nämlich ausschliesslich militärischen, Vorbedingungen stattfanden: Nichts wäre unvernünftiger gewesen als auf diesen Kriegszügen der Jahre 15 und 16, die mit absoluter Sicherheit in hochriskante Schlachten verwickelt werden würden, goldene Schätze mitzuführen. Allein schon der Wert eines einzigen Goldstückes verbietet sich dabei: Es entsprach einem bis zwei Monatsgehältern und wäre als Zahlungsmittel für den üblichen Handel zwischen Legionären auf einem Feldzug praktisch nutzlos gewesen.

Bei Varus aber lagen die Dinge bekanntlich ganz anders. Der Varuszug war ein Verwaltungszug zur Steuererhebung ins innere Germanien und führte neben dem militärischen Gerät auch reichlich Prunk und Ausstattung der Adligen, speziell Varus selbst, aber auch der Offiziere mit sich. Die Mitführung zahlreicher Zivilisten lässt darauf schliessen, dass nicht nur Repräsentation, Juristerei und Steuereintreibung Aufgabe des Varuszuges war, sondern dass auch umfangreicher Handel und Kulturexport durchgeführt wurde. Mit einem Schlag wurde eine sonst ungekannte Menge an augusteschem Material in die Hände der Germanen des Weserberglandes gespült.

Ein weiterer entscheidender Fund sind die Bestattungsgruben auf dem Schlachtfeld: Nach Tacitus besuchte Germanicus in 15 das Schlachtfeld und lies die verstreut herumliegenden Gebeine der Legionäre bestatten. Die in den sorgfältig befestigten Gruben von Kalkriese gefundenen Knochen stammen nach den anthropologischen Untersuchungen der Universität Göttingen von jüngeren Männern, die gut ernährt und gesund waren. Es findet sich auch eine Frau darunter, wie es für den Varuszug überliefert ist. Die Skelette weisen zum Teil nicht verheilte Kampfverletzungen auf, die offensichtlich zum Tode geführt haben. Diese Skelette waren nach den forensischen Untersuchungen ganz sicher etwa 5 Jahre oder mehr an der Oberfläche gelegen, bevor man sie so anständig unter die Erde brachte. Das passt genau zu der Schilderung des Tacitus.

Andersherum passt es aber ganz sicher nicht: Die Gegner der Kalkrieser Lokalisierung behaupten an diesem Ort eine der Germanicusschlachten. Wäre das korrekt, so hätte man die Knochen dort aber etwa zwischen den Jahren 20 und 30 so fein bestattet. Wer sollte das denn dann gewesen sein? Etwa die Germanen in einem moralischen Anfall später Reue? Römer jedenfalls waren zu dieser Zeit nicht dort. Dieses besonders ungewöhnliche und auffällige Faktum mit der Caecina- oder Angrivarierschlacht in Verbindung setzten zu wollen ist daher mehr als gewagt.

(Bild: Rekonstruierte Verteidigungsanlage in Kalkriese)

Die Varusschlacht hat ihren Niederschlag bei etlichen römischen Autoren aufgrund ihrer ausserordentlichen Bedeutung gefunden. Es war nicht nur eine Niederlage, auch nicht nur eine vernichtende Niederlage, es war eine ungewöhnliche Katastrophe, bei der 3 Legionen plus 6 Kohorten und 3 Alen, sowie eine unbekannte Anzahl zivilen Trosses aus Adligen, Juristen, Händlern, Handwerkern, Ärzten, Frauen, Kindern und Sklaven restlos unterging; alles in allem an die 30.000 Personen mit einer grossen Menge an Waffen, Waren, Nutztieren, Wagen und Geld und militärischer und ziviler Ausrüstung. Während andere römische Niederlagen, z.B. die Lolliusniederlage, nur zu mehr oder weniger grossen Teilverlusten führten, war diese Niederlage eine ausgesprochene Tragödie für Rom, was sowohl durch den literarischen Niederschlag als auch durch die Nichtwiederaufstellung der 17., 18. und 19. Legion angezeigt ist. Es ist uns kein weiteres Ereignis solcher Tragweite für das fragliche Gebiet überliefert.

Die mit Abstand grösste varuszeitliche Streumünzenfundhäufung ausserhalb der befestigten Lippelager und jenseits des Teutoburgerwaldes kann daher ad hoc nur der Varusschlacht zugeschrieben werden. In Kombination mit den weiteren Funden und der historischen Gesamtschau ist Kalkriese ganz sicher Schauplatz der Varusschlacht, zumindest deren katastrophales Ende, gewesen. Die vielen sonstigen Hypothesen zur Lokalisierung der Varusschlacht, niemand hat sie wirklich genau gezählt, es mögen 700 oder auch 1000 sein, sind daher im Rückblick auf die Ausgrabungsergebnisse von Kalkriese sicher auszuschliessen, sofern sie Kalkriese nicht in adäquater Weise berücksichtigen.