Wie kam Varus nach Kalkriese?
Das Sommerlager
Eine weiterhin ungeklärte Frage ist die Existenz und die mögliche Lage des Sommerlagers des Varus. Die noch erhaltenen Quellen beschreiben zwar einigermassen gut den Verlauf der Varusschlacht, lassen uns aber über den geographischen Verlauf weitgehend im Unklaren. Ja selbst der Sinn und Zweck der Reise, woher er genau kam, was er in Germanien wollte, ob es die erste oder vielleicht schon die dritte solche Reise war, ja wo sie genau hinführte und wie lange sie dauerte, alles das sind offene Fragen. Wir müssen aus den wenigen Andeutungen der römischen Historiographen in Verbindung mit allgemeinen Kenntnissen über Rom und Germanien der Zeit den möglichen Antworten näher kommen. Dabei ist natürlich jeder neue Fund der Okkupationszeit östlich der Lippequelle von grosser Bedeutung, da er weitere Hinweise auf römische Bewegungen zu dieser Zeit gibt. Auch wenn nicht jeder Neufund gleich zwingend Varus zu zuordnen ist, so gibt er in jedem Fall einen Fingerzeit auf römische Positionen und Absichten in Germanien. Und damit immer auch direkt oder indirekt auf Varus selbst.
Die Gesamtsituation in Mittelgermanien zur Varuszeit:
- Rote Linie: Lipperoute bis zum Elbeknie (Drusus, Tiberius); dies ist die Normalroute; das Cheruskergebiet begann östlich Anreppen/Teutoburger Wald und endete erst am Elbeknie. - Braune Linien: Verbindungswege nach Süden in die Wetterau/Mainz durch das Gebiet der Chatten. - Rote Kreise: bis dato nachgewiesene Lagerareale der Zeit um Christi Geburt: Castra Vetera I (Xanten), Holsterhausen, Haltern, Oberaden/Beckinghausen, Anreppen; südlich der Lipperoute Kneblinghausen und Hedemünden. - Violette Kreise: bereits bekannte Vorschläge für ein Sommerlager, Anreppen, Lügde, Hameln, Elze, Hildesheim, Minden. - Der türkis gepunktete Weg ist der Helweg vor dem Sandforde, den Mommsen 1885 vorschlug, zu einer Zeit wo die gut ausgebaute Lipperoute archäologisch noch nicht nachgewiesen war. Mommsen kannte ausschließlich Haltern (1816). Aus seiner damaligen Sicht, im Hinblick auf seine Kalkrieseentdeckung, erschien der weitere gepunktete Weg quer durch die sumpfige Münsterländer Bucht daher durchaus plausibel.
Das hellgrüne Wagenrad ist Kalkriese, Ort der Endschlacht des Varus. Der gelbe Weg ist der kürzeste Weg von der Porta-Westfalica/Minden zur damals hervorragend ausgebauten Lipperoute. Er führt sicher über Herford und danach entweder via Bielefelder Senke auf der Westseite des Teutoburgerwaldes (alternativ auch auf der Ostseite bis Horn-Bad Meinberg) nach Anreppen. Grün ist der Weg, wie er sich aus einem Sommerlager auf der Hauptachse ergibt. Auch dieser führt, egal ob Lügde, Hameln, Elze oder Hildesheim, über den Herforder Raum.
Herford (grüner Kreis) liegt, wie die Spinne im Netz, in der so genannten Ravensberger Mulde. Diese Stelle ist eine taktische Falle, denn dort befindet man sich in einem unangenehmen Trog. Alle möglichen Auswege sind von dort aus nur durch tagelangen Marsch, bergauf und nach überschreiten natürlicher Hindernisse (Bergketten) möglich. In der unmittelbaren Nähe von Herford liegen die Knetterheide und Hiddenhausen-Oetinghausen.
Hat es das Sommerlager gegeben?
Nun, Hinweise auf ein Sommerlager lassen sich an verschiedenen Stellen der Überlieferung herauslesen, ein Sommerlager wird definitiv aber nur von dem arg dramaturgischen Historiographen Florus beschrieben. Der als zuverlässiger geltende Cassius Dio dagegen schreibt dies differenzierter, so spricht er es als einen Fehler des Varus an, dass dieser auf Bitten der Germanen etliche Truppenkontingente in weitere Entfernungen abstellte, um dort Verwaltungs- und Polizeiaufgaben zu bewerkstelligen. Dadurch soll er seine Kampfkraft mehr als nötig geschwächt haben. Denn nach Beginn der Kampfhandlungen wurden auch alle weiteren Posten und Truppenkontingente der Römer, die sich weit verstreut und ohne direkten Kontakt im Lande befanden, durch germanische Einheiten niedergemacht.
Es stellt sich somit also die grundsätzliche Frage, ob und in welcher Grösse ein varianisches Sommerlager zu erwarten ist. Die Mehrzahl der Historiker geht von der Existenz eines Sommerlagers aus. Dies ist eigentlich auch klar, denn auch wenn Varus Truppen während des Sommers anderweitig abstellte, er wird keinesfalls so unvorsichtig gewesen sein sich und seinen Hofstaat ohne ausreichenden Schutz zu lassen. Der Hauptteil des vermutlich rund 30.000 Menschen starken zivil-militärischen Zuges wird sich in einem zentralen Lager befunden haben. Auch die Grösse eines solchen Lagers lässt sich vermuten: Ein typisches Lager für nur eine Legion, etwa die in Bonn, benötigte eine Fläche von mindestens 500 mal 500 Meter, und dabei gonnte man sich nicht allzu viel Platz. Für drei Legionen plus Auxiliaren und Zivilisten ist also, selbst bei Abstellung von Teilen der Truppen, von einer notwendigen Fläche von wenigstens 1 Quadratkilometer auszugehen.
Was wollte Varus in Germanien?
Zur Beurteilung der mutmasslichen Lage des Objekts ist wiederum von Bedeutung, welche Absichten man Varus mit diesem Sommerzug unterstellen darf. Überliefert ist das er Steuereintreibungen und Gerichtsbarkeit betrieb und das sogar Frauen, Kinder und ein stattlicher Sklaventross zum Personal gehörte.
Als Varus vermutlich Ende des Jahres 6 seinen Dienst in Niedergermanien antrat, war dies in direktem Auftrag des Augustus, in dessen Familie er durch Heirat verwurzelt war, zustande gekommen. Schon seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung war es in Rom zu Hungersnöten gekommen, weil der Staat so knapp bei Kasse war, das die Versorgung der Ärmsten mit Getreidespenden ausfiel. Mit Ausbruch des pannonischen Krieges, der von 6 bis 9 andauerte, wurde von Rom die letzten Reserven gefordert und der Bedarf an neuen Einnahmen schnellte in die Höhe. Dies genau muss die neue Aufgabe des Varus gewesen sein, denn bereits in Syrien wo man ihn abrief, hatte er bewiesen dass er in der Lage war eine Provinz nicht nur zu verwalten, sondern auch formidabel auszubeuten.
Leider ist über seine Zeit von 6/7 bis 9 in Germanien nichts überliefert, die Berichte setzen erst mit seiner kapitalen Niederlage im Teutoburger Wald ein. Mit dem Einzug in Niedergermanien dürfte aber ein neuer Wind in Germanien geweht haben. Waren etwa die Cherusker bis zu dieser Zeit als römische Verbündete gut eingebunden und deren Führungsschicht sicher als Profiteure anzusehen, so wurde nun von Varus die weitgehende Abgabe von Steuern und Tributen gefordert. Damit verbunden war sicher auch die Einführung verbesserter Handelsbeziehungen und die aus römischer Sicht notwendige Etablierung römischer Gerichtsbarkeit. Selbst feste, bereits in Stein gebaute Städte wurden im Innern Germaniens errichtet: Waldgirmes, auf chattischem Gebiet, ist hierfür der bisher archäologisch stärkste Beleg.
Wie uns überliefert wird, ging Varus also von einer tatsächlich vorhanden römischen Provinz aus, die nach dem erfolgreichen Feldzug des Tiberius, zum Abschluss des immensum bellum Ende 4, bis zur Elbe reichte. Das er zudem kurz nach Beginn des pannonischen Krieges abgeordnet wurde lässt vermuten, das er sich mit seiner Aufgabe nicht bis 9 Zeit ließ. Es ist ohne weiteres denkbar, dass er bereits in den Jahren 7 und 8 ähnliche Sommerzüge durchführte und somit bis zu drei solcher Sommerlager, durchaus auch an verschiedenen Orten, erwartet werden können.
Nicht undenkbar, das etwa Waldgirmes aus einem solchen Sommerlager hervorging, und somit die Provinzialisierung des chattischen Gebietes in die Wege leitete. Spätestens im Jahre 9 dagegen beschäftigte ihn die Provinzialisierung des cheruskischen Raumes. Arminius war römischer Ritter und Tischgenosse des Varus und hatte sicher daher, aber auch aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre, sehr gute Kenntnisse über die Verfahrens- und Verhaltensweise des Varus bei einem solchen Sommerzug. Das er zudem genau die germanischen Hilfstruppen des Varus befehligte, ermöglichte ihm seine komplexen und ausgesprochen raffiniert genialen Vorbereitungen für den kommenden Angriff.
n seinem letzten Jahr muss Varus spätestens den römischen Anspruch auf das Gebiet bis zur Elbe angemeldet haben. Das geographische Ziel des Varus in 9 muss daher zentral im Gebiet der Cherusker gelegen haben. Ein Sommerlage etwa nur am Ende der Lipperoute gelegen, so Anreppen, wäre dafür keinesfalls ausreichend gewesen. Denn das Gebiet der so eminent wichtigen Cherusker begann erst östlich des Teutoburger Waldes und setzte sich entlang des Nordharz bis zum Elbeknie bei Magdeburg fort. Wollte man ernsthaft den Anspruch bis dort durchsetzen, so musste man den Teutoburger Wald sicher überschreiten, ja sogar die Weser.
Wo lag das Sommerlager des Jahres 9?
Die kürzeste Verbindung zwischen Rhein und Elbe verläuft die Lippe entlang und dann quer durch das Weserbergland durchs Emmertal via Hameln und Hildesheim nach Magdeburg. So wurde entlang dieser Hauptachse verschiedene Vorschläge gemacht, insbesondere sind dies Lügde/Bad Pyrmont im Emmertal, Hameln an der Weser und Elze oder Hildesheim am Ausgang des Berglandes in die Nordostdeutsche Tiefebene.
(Bild: Herlingsburg bei Lügde / Bad Pyrmont, Wohnsitz des Arminius-Clans?)
Sichere Belege gibt es bislang für diese Lokalisationen nicht, allerdings einige archäologische Hinweise. So befindet sich bei Lügde/Bad Pyrmont die germanische Herlingsburg, die im Volksmund dem Arminius zugeschrieben wird und der Pyrmonder Brunnenfund, der seinen Beginn in dieser Zeit hatte, zudem etliche Münzfunde dieser Zeit. Für Hameln spricht etwa die gut passierbare Weserfurt, für Hildesheim die strategisch günstigste Lage für den Anspruch auf das Cheruskergebiet, denn es war deren Kerngebiet. Zudem fand sich dort am Hildesheimer Galgenberg auch der berühmte Silberfund: 55 kg augustesches Geschirr das mit hoher Wahrscheinlichkeit ehemals zu einer Offiziersgemeinschaft gehörte und aus der Varusbeute stammt.
Für Hildesheim gibt es noch eine ganze Reihe von weiteren Hinweisen, die ich ggf. auch hier ausführen werde. Zur Zeit liebäugele ich in der Abwägung aller verfügbaren Informationen am ehesten mit diesem Ort.
Sommerlager in Minden?
Theodor Mommsen war der Erste der Kalkriese als Ort der Varusschlacht vermutete. Dies konnte er aus der enormen Häufung von passenden Münzfunden an dieser Stelle folgern. Darauf aufbauend folgerte er als eine mögliche Position für das Sommerlager den Ort Minden, direkt an der Weser und der Porta Westfalica gelegen. Der Grund dafür ist, dass entlang des Nordhangs des Wiehengebirges ein gut gangbarer Weg ins gut 60 km entfernte Minden führt, der zu römischen Zeiten sicher schon bekannt war.
Strategisch liegt es auch nicht schlecht, denn nach Süden kann man ins Cheruskerland eindringen und nach Norden weserabwärts befanden sich die romtreuen Chauken und Friesen: via Ems, Weser und Elbe war die norddeutsche Tiefebene ein riesiges Einfallstor für die classis germanica. Diese wurde allerdings nicht von Varus, sondern nur von den drei anderen in Frage kommenden Feldherren genutzt.
Einzuwenden dagegen ist, dass Minden nicht günstig in Bezug zum Cheruskergebiet liegt, es berührt dieses nur an der Peripherie. Für einen Machtanspruch bis zur Elbe viel zu weit weg vom Schuss. Außerdem war man zur Zeit des Varus eng mit den Cheruskern verbunden, kein Grund also ausgerechnet dem Kernbereich des engsten Verbündeten fern zu bleiben. Daher wäre Minden eine ziemlich schlechte Wahl gewesen, aber es ist zur Zeit weder belegt noch wäre es grundsätzlich unmöglich. Außer dieser alten Vermutung durch Mommsen spricht aber aus Sicht der Quellen nichts konkretes für Minden.
Sommerlager in Minden - Barkhausen gefunden?
"Sommerlager des Varus in Minden Barkhausen gefunden", lautete es sinngemäss Anfang August 2008 in verschiedenen Presseberichten. Aus den bislang wenigen Funden lässt sich lediglich folgern, dass dort um die Zeitenwende Römer anwesend waren.
Welcher der römischen Feldherren mit welchen Truppenteilen dort anwesend war, so etwa
Drusus (bis 9 v.Chr.),
Tiberius (9 v. Chr. bis 6 n.Chr. und 10 bis 14 n.Chr.),
Varus (7 bis 9 n.Chr.) oder
Germanicus (14 bis 16 n.Chr.),
dass war im Oktober 2008 noch nicht erkennbar. Der terminus post quem der wenigen Münzen lässt dem Grunde nach bislang noch alle vier Feldherren zu. Ein befestigtes römisches Lager, massiv wie für ein Sommerlager unbedingt zu erwarten ist, gab es dort nach den vorläufigen Grabungsergebnissen aber nicht. Die Hinweise, etwa anhand der gefundenen keltischen und gallischen Münzen, Getreidemühlen u.a. zeigt, dass es sich hier vermutlich um ein germanisches Auxilliarenlager in römischen Diensten gehandelt haben könnte.
(Bild: Dolia in Ostia, dem Hafen des antiken Roms, AlMare.)
Dolii fassten meist 50 Quadrantale, das sind umgerechnet etwa mehr als 1300 Liter. Es sind aber auch grössere mit bis zu 1700 Liter bekannt. Das befüllte Gewicht von 2 Tonnen war deswegen für den Wagentransport zu gross und die zerbrechliche Tonware hätte den unwegsamen Strassentransport auch nicht heil überstanden.
Den deutlichsten Hinweis auf Germanicus liefert jedoch der Fund der Reste eines sogenannten Dolium in Barkhausen. Das waren gewaltige römische Tongefässe, Riesenamphoren die um die 1500 Liter fassen konnten, und die sich ausschliesslich auf Schiffen transportieren liessen. Eine Transportmethode, die für Germanicus (die aber auch, weniger wahrscheinlich, für Tiberius z.B. im Immensum Bellum 1.-4.n.Chr.) zutrifft, ganz sicher aber nicht für Varus.
Germanicus nämlich kam von der Nordsee mit der römischen Marine und führte an der damals bei Barkhausen vorhandenen Weserfurt im Jahre 16 die so genante Schlacht am Weserübergang durch. Germanicus war dabei mit der classis germanica über die Flüsse der norddeutschen Tiefebene mit 8 Legionen plus germanischer Hilfstruppen, insgesamt etwa 70.000 Mann, angerückt. Dies zeigt sich auch an der Fundverteilung von augusteschen und frühtiberianischen Münzen (FMRD) auf der gegenüberliegenden Seite der Weser Richtung Bückeburg: In diesem Gebiet findet sich ein Häufungspunkt solcher Münzen, die einen recht guten Hinweis auf Germanicustruppen in dieser Gegend geben.
Bezug zum Ersten Marschlager nach Cassius Dio
Welche Bedeutung hätte der kaum mehr anzunehmende Fall, dass in Barkhausen tatsächlich das, bzw. ein, Lager des Varus nachgewiesen würde, für das Erste Marschlager nach Cassius Dio in Hiddenhausen bei Herford?
Erstaunlicherweise gar keine: Denn auch vom Mindener Raum aus führt der kürzeste und sicherste Weg zur Lippekopfstation Anreppen direkt an Herford und Knetterheide vorbei. Lediglich der Anmarschweg würde statt von Südosten dann aber aus Nordosten kommen. Der von Mommsen ursprünglich angenommene direkte Weg nach Kalkriese, immer entlang der nördlichen Wiehengebirgskante, kann dagegen aus mehreren Gründen ausgeschlossen werden: Er war zu kurz, zu gut, und ohne nennenswerte Variationen um mit der Beschreibung des Cassius Dio kompatibel zu sein. Letztere passt am besten auf die Anmarschroute von Südosten her, welche ja auch geopolitisch und strategisch bei weitem sinnvoller ist und somit näher liegend ist.
Türkis gepunktet der kürzeste Weg von Minden zur Lippe. Am Szenario der letzten vier Tage würde sich selbst dann nichts wesentliches ändern.
Gerade noch rechtzeitig kam daher auch die Korrektur der etwas schnell geschlossenen Annahme des Mommsenschen-Somerlagers im Spiegel Nr. 51 vom 15.12.2008:
"...Für Aufregung sorgt auch eine Grabung an der Porta Westfalica: Münzen, Nägel von Legionärsschuhen und Zeltheringe wurden dort freigelegt. Der Ausgräber Daniel Berenger ist sicher: ’Hier haben Tausende von Soldaten campiert’. Sein Verdacht: Das Lager könnte ins Umfeld der ‚Schlacht von Idistaviso’ gehören. Bekannt ist, dass Arminius 16 nach Christus an der Weser einen Frontalangriff auf ein Acht-Legionen-Heer wagte. Er entkam knapp..." (Zitat aus Der Spiegel, Nr. 51, 15.12.08, Feldherr aus dem Sumpf, Seite 126 ff., hier Seite 131.)